Wie Schweizer Kleinunternehmen innovativ bleiben

Der Innovationsvorsprung der Schweiz ist vor allem auf die Berufsbildung und die Aktivitäten der Arbeitnehmer am Arbeitsplatz zurückzuführen, nicht auf die Hochschulen oder die F&E-Abteilungen.

Kurz und bündig

                    • Überdurchschnittlich viele Schweizer Kleinunternehmen sind überdurchschnittlich innovativ
                    • Ihre innerbetrieblichen Innovationen sind meist evolutionär, nicht revolutionär
                    • Das Berufsbildungssystem ist eine der grössten Stärken der Schweiz
Imprenditorialità Photo by Gerd Altmann on Pixabay
Unternehmertum Photo by Gerd Altmann on Pixabay

Die Fahnen-Center Weinfelden GmbH mit ihren neun Mitarbeitenden ist ein Mikrounternehmen. Der Chef-Inhaber arbeitet Schulter an Schulter mit Programmierern, Monteuren und Lehrlingen. Was sich hinter dem Namen verbirgt, ist ein modernes Werbeunternehmen. Sie vertreibt vor allem LED-Werbung (Digital Display): Hardware, Programmierung und Kampagnenumsetzung.

In vielerlei Hinsicht ist das Fahnen-Center ein typisches Schweizer Kleinunternehmen. Ursprünglich stellte es Fahnen her und wagte den Einstieg in den Verkauf von Werbemitteln. Heute macht das Unternehmen über 6 Millionen CHF (5,94 Millionen Euro) Umsatz mit LED-Werbung. Interessant ist, dass etwa die Hälfte des Einkaufswertes und mehr als ein Drittel des Umsatzes im Ausland erzielt werden.

KMU dominieren die Schweiz

Die Zahlen des Bundesamtes für Statistik zeigen, dass das Flaggenzentrum nicht allein ist. Über 99 Prozent aller Unternehmen in der Schweiz haben weniger als 250 Beschäftigte. Das sind die kleinen und mittleren Unternehmen (KMU). Sie stellen rund 67 Prozent aller Arbeitsplätze und über 70 Prozent der Lehrstellen. So weit, so gut; andere Volkswirtschaften melden ähnliche Zahlen.

Überraschend ist, dass die Schweizer KMU mit rund 60 Prozent einen vergleichsweise hohen Anteil an der Wertschöpfung haben. Und sie wickeln die Hälfte des Aussenhandels ab, rund 60 Prozent der Importe und 45 Prozent der Exporte. Kein anderes Land hat eine so hohe Aussenhandelsbeteiligung der KMU.

In den meisten Fällen handelt es sich um eine evolutionäre, nicht um eine revolutionäre Innovation.

Statistisch gesehen gibt es eine Kategorie von “wachstumsstarken” Unternehmen, die als marktwirtschaftliche Unternehmen mit mindestens 10 Beschäftigten zu Beginn des Beobachtungszeitraums definiert sind und deren durchschnittliches jährliches Beschäftigungswachstum über drei Jahre mehr als 10 % beträgt. Auch hier stehen die KMU an der Spitze der Liste. Etwa 11 Prozent der kleinen Unternehmen weisen ein hohes Wachstum auf; bei den großen Unternehmen sind es nur 5 Prozent.

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KMU tragen Innovation

Wie kommt es zu dieser ungewöhnlichen Dynamik der Schweizer KMU? Ordnungspolitisch gibt es verschiedene Erklärungsansätze: tiefe Steuern, effiziente administrative Rahmenbedingungen, vergleichsweise geringe Regulierung, Politik als Nebenamt und vieles mehr. Aber ein anderer Faktor ist viel überzeugender: Überdurchschnittlich viele Schweizer KMU sind überdurchschnittlich innovativ.

Oft wird die Wahrnehmung von Innovation auf Themen wie Technologie, Forschung und Entwicklung (F&E) und Patente reduziert. Umgekehrt könnte man annehmen, dass KMU, die keine Hochtechnologie einsetzen, keine Patente anmelden und keine F&E-Ausgaben tätigen, nicht innovativ sein können. Diese Annahme ist falsch. 

Ebenso falsch ist die Behauptung, dass Innovationen disruptiv sein müssen. Unterbrechung bedeutet, dass ein bestehendes Geschäftsmodell oder ein Markt durchbrochen wird. Die meisten Innovatoren passen nur ihr eigenes Geschäftsmodell an – und damit nur einen Teil der Marktprozesse. Innovation ist in den meisten Fällen evolutionär, nicht revolutionär.

Innovation ist inhaltlich und ergebnisoffen und kann die unterschiedlichsten Aspekte der unternehmerischen Tätigkeit betreffen. Außerdem hat sie keine vorherbestimmte Quelle. Studien deuten darauf hin, dass rund ein Drittel der Innovationen in Schweizer KMU direkt von den Mitarbeitenden kommen. Diese Innovationen entstehen bei der Ausführung alltäglicher Aufgaben, nicht in Labors und F&E-Abteilungen. In den KMU werden die Innovationen am Arbeitsplatz und auf dem Markt gemacht. Sie werden übrigens selten registriert oder patentiert, weil die entsprechenden Verfahren bürokratisch und kompliziert sind. Aber die Tatsache, dass Verbesserungen nicht offiziell anerkannt werden, bedeutet nicht, dass sie keine Innovationen sind. Diese Innovationen sind der Motor für das Wachstum der KMU.

start-up Imprenditorialità Photo by Gerd Altmann on Pixabay
Start-up Unternehmertum Photo by Gerd Altmann on Pixabay

Berufliche Bildung und Innovation

Aus denselben Studien geht hervor, dass die Innovation in den KMU in mehrfacher Hinsicht mit der Berufsbildung zusammenhängt. Nach Angaben des Staatssekretariats für Bildung, Forschung und Innovation absolvieren rund zwei Drittel aller Jugendlichen in der Schweiz eine Lehre. Sie haben die Wahl aus rund 230 Berufen. Während zwei bis vier Jahren lernen sie gleichzeitig in einem Betrieb und in der Berufsschule und erhalten so eine solide Grundlage in ihrem Beruf. Nach der Lehre absolvieren viele eine höhere Berufsbildung. Sie erwerben spezifische Qualifikationen und bereiten sich auf Führungs- und Fachfunktionen vor. Es gibt rund 410 Berufs- und höhere Fachprüfungen zum Nachweis der erworbenen Kompetenzen und 52 Studiengänge an höheren Fachschulen.

Die Unternehmen, die anfangs einen Nettoverlust im Ausbildungsprozess verzeichneten, haben später die Investitionskosten wieder hereingeholt.

Die Bildungsökonomen Mirjam Strupler und Stefan Wolter haben von 2000 bis 2009 Kosten-Nutzen-Erhebungen für die Berufsbildung in der Schweiz durchgeführt. Ihr Fazit: Es lohnt sich, Lehrlinge auszubilden. Sie verglichen 2’500 Betriebe, die Lehrlinge ausbildeten, mit rund 10’000 Betrieben, die dies nicht taten, und fanden heraus, dass zwei Drittel der Firmen einen direkten Nettonutzen aus der Ausbildung von Lehrlingen erzielten.

Und selbst im letzten Drittel der Unternehmen, die anfangs einen Nettoverlust bei der Ausbildung verzeichneten, wurden die Kosten der Investition später wieder hereingeholt. Sie profitierten davon, dass sie den Lehrling beschäftigten und so eine teure Rekrutierung auf dem Arbeitsmarkt vermeiden konnten, und generierten spezifisches Know-how in der Nachwuchsförderung für das eigene Unternehmen.

Gemäss Studien des Ökonomen Rico Baldegger stammen rund ein Drittel der betrieblichen Innovationen von den Mitarbeitenden im Rahmen ihrer Tätigkeit. Das heisst, explizit nicht aus F&E-Abteilungen, sondern von Personen, die direkt an der Herstellung von Produkten oder der Erbringung von Dienstleistungen beteiligt sind.

Der Grund dafür liegt laut der Studie in der hohen Kompetenz der Mitarbeitenden mit abgeschlossener Berufsausbildung. Sie sind es gewohnt, flexibel mit Herausforderungen umzugehen, neue Informationen in den Arbeitsprozess zu integrieren und selbstständig zu denken. Dieser Pragmatismus gibt ihnen das nötige Rüstzeug, um Neues am Arbeitsplatz und im Markt umzusetzen.

Training Photo by Austin Distel on Unsplash
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Berufliche Bildung sichert Unternehmertum

Etwa ein Drittel der Personen, die eine Berufsausbildung abgeschlossen haben, absolvieren anschließend eine weitere formale Ausbildung. Die berufliche Weiterbildung bietet eine breite Palette von Möglichkeiten – von der Erlangung des Meistertitels bis hin zur Aufnahme eines Studiums an Fachhochschulen und Universitäten im Bereich der angewandten Wissenschaften. Übrigens ist die berufliche Aus- und Weiterbildung eine der stärksten Formen der Zusammenarbeit mit der Wirtschaft. Es sind die Unternehmen, die in ihren Verbänden bestimmen, was gelehrt werden soll. Der Staat spielt je nach Branche keine oder nur eine untergeordnete Rolle. In der Schweiz gilt die Regel, dass die Schule dem Beruf folgt.

Die Berufsbildung sichert aber auch den Wettbewerb, indem sie die Jugendlichen befähigt, das berufliche Niveau zu halten, sich auf dem Arbeitsmarkt zu behaupten und ihre Produkte und Dienstleistungen sowie ihre eigenen Kompetenzen weiterzuentwickeln. Die Berufsbildung fördert also die Vielfalt und führt zu Differenzierung, Innovation und Wettbewerb. In der Schweiz bedeutet sie lebenslanges Lernen. Sie ist de facto auch eine Ausbildung zum Unternehmertum.

Die Berufsbildung sorgt nicht nur für den Berufsnachwuchs und sichert die Beschäftigungsfähigkeit, sondern führt auch zur Durchlässigkeit von abhängiger und selbständiger Tätigkeit. Nach Jahren der Beschäftigung beschließen viele Fachkräfte, selbst Unternehmer zu werden. Dies kann durch die Gründung eigener Unternehmen oder durch die Übernahme der Unternehmen geschehen, in denen sie ihre Erstausbildung absolviert haben. Der Wirtschaftswissenschaftler Silvio Borner schätzt, dass etwa 15 Prozent aller Fachkräfte im Laufe ihres Berufslebens zu selbständigen Unternehmern werden.

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Szenarien

Das Schweizer System funktioniert gut – im internationalen Vergleich sogar sehr gut. Aber es gibt mögliche Herausforderungen. Diese lassen sich in drei Szenarien darstellen.

Gesellschaftlicher Gesinnungswandel

Bei der jungen Generation könnte es zu einer Hinwendung zu akademisch orientierten Studien kommen. Da eine solche Ausbildung in der Regel weniger unternehmerisch ist und keine Fähigkeiten für den Arbeitsmarkt vermittelt, würde dieser Trend die Zahl der Arbeitnehmer und Arbeitslosen erhöhen. Erschwerend kommt hinzu, dass akademische Karrieren, die auf Institutionen und Beschäftigungssicherheit ausgerichtet sind, negative Anreize für unternehmerisches Denken setzen und damit die Innovationsvielfalt verringern. Dies würde das gesamte Schweizer System untergraben. Das Risiko, dass dieses Szenario eintritt, kann auf 33 Prozent geschätzt werden.

Staatliche Übernahme

Weniger folgenreich, aber dennoch problematisch wäre eine zunehmende staatliche Bevormundung, die zu einer Stagnation der Berufsbildungsinhalte führt. Das System ist gefährdet, wenn bestimmte wirtschaftliche Entwicklungen nicht aufgegriffen werden, wie Prozessmanagement, Digitalisierung, neue Arbeits- und Fertigungstechnologien oder Produktivitätsmanagement. Das kann schnell passieren, wenn der Staat beginnt, sich in das System einzumischen. Schließlich ist die staatliche Bürokratie nicht nur marktfern, sondern auch ein Anhänger der Allgemeinbildung. Schlimmer noch: Der Staat könnte die Berufsbildung zur Folklore machen – mit katastrophalen Folgen für den Wirtschaftsstandort Schweiz. Auch hier liegt die geschätzte Wahrscheinlichkeit eines solchen Szenarios bei 33 Prozent.

Verwässerter Fokus

In einem besseren, aber bei weitem nicht idealen Szenario übertrumpft die Berufsbildung immer noch die rein akademische Schulbildung. Fachkräfte bleiben befähigt, selbständig zu handeln und unternehmerisch tätig zu sein. Allerdings wird sich der Trend zu einer stärkeren Einmischung des Staates und einer Bevorzugung der Allgemeinbildung fortsetzen. In einigen Fällen könnten die Berufsverbände, angelockt durch Subventionen und günstige Regelungen, versucht sein, verstärkt Kooperationen mit dem Staat einzugehen. Der Preis für eine solche scheinbar marginale Veränderung könnte sich als hoch erweisen. Die Schweiz würde allmählich ihre wirtschaftliche Flexibilität und ihr Innovationspotenzial verlieren und zum Mitläufer statt zum Trendsetter werden. Auch hier liegt die Wahrscheinlichkeit bei 33 Prozent.

Optimismus trotz alledem

Die Mitarbeiter des Flaggencenters in Weinfelden nehmen die Trends zur Kenntnis, aber sie halten an ihren Gewohnheiten fest. Abgesehen von den beiden Lehrlingen kommt niemand im Betrieb aus der Branche. Weder der Inhaber noch die Mitarbeiter in der Montage und Programmierung haben Codierung oder das Einrichten der LED-Hardware studiert. Sie haben diese Fähigkeiten in der Praxis und auf dem Markt gelernt. Für sie war dieser Prozess eine Innovation. Der Wechsel der Geschäftsstrategie von der Stofffahne zur Informationstechnologie war eine Innovation für das Unternehmen selbst.

Sie alle haben das geschafft, weil sie flexibel waren. Die Aus- und Weiterbildung konditionierte die Teammitglieder darauf, Veränderungen in der Arbeit und in der Unternehmensstrategie als unternehmerisches Handeln zu sehen. Diese gelingen, wenn man sich traut, etwas Neues zu tun – Institutionen aufzubrechen, ohne Rücksicht auf Sicherheiten. Wenn man sich nicht in falscher Sicherheit wiegt, wird alles funktionieren, sagt der Inhaber.

 

Author: Henrique Schneider professor of economics.

Quelle:

How small Swiss firms keep innovating