„Pandemie als Lernkurve für den Föderalismus“
Ein von Avenir Suisse erstellter Zwischenbericht über den Umgang der Kantone mit der COVID19-Krise sieht Zug, Tessin und Graubünden an der Spitze der Liste
Welche Kantone haben sich bei der Bewältigung der Herausforderungen der Pandemie hervorgetan? Das neue Bundesländermonitoring von Avenir Suisse fasst die Lehren aus den fast zwei Jahren Coronavirus zusammen.
Um den zukünftigen Herausforderungen besser begegnen zu können, müssen wir uns im föderalistischen Staatsaufbau sorgfältiger organisieren und die Verantwortlichkeiten klarer definieren.
Im internationalen Vergleich geniessen die Schweizer Kantone dank des föderalistischen Systems ein hohes Mass an Autonomie. Die Bewältigung der Pandemie ist keine Ausnahme (sobald die „ausserordentliche Situation“ für beendet erklärt wurde).
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Von Lukas Schmid nützliche Lehren für künftige Krisensituationen
Avenir Suisse nimmt dies zum Anlass, ein neues „Monitoring der Kantone“ zu lancieren. In seinem ausführlichen Bericht analysiert der Autor Lukas Schmid Primärdaten, um daraus nützliche Lehren für künftige Krisensituationen zu ziehen, insbesondere für die Bewältigung des ungestümen Vormarschs der fünften Welle von COVID-19.
Welche Strategien erzielten beim Kampf gegen #Covid19 die grösste Wirkung im Ziel? Die neue Studie von Lukas Schmid zieht eine Zwischenbilanz zum Umgang der Kantone mit der Pandemie: @lukschmid https://t.co/HFchwTYCvu
— Avenir Suisse (@Avenir_Suisse) December 15, 2021
Mehr Tests, mehr Kontrolle: schlechtes JU, NE, OW, AG, SG, LU und SZ
Um eine Pandemie in den Griff zu bekommen, gibt es keine andere Möglichkeit, als umfangreiche Tests durchzuführen und eine wirksame Kontaktverfolgung (KV) einzurichten.
Der Vergleich zwischen den Kantonen lässt keinen Zweifel: Die grossen Anstrengungen der einen haben sich gelohnt. Basel-Stadt, Basel-Landschaft, Zug und Graubünden haben die Ausbreitung der Infektion besser unter Kontrolle gehalten als andere, während Jura, Neuenburg, Obwalden, Aargau, St. Gallen, Luzern und Schwyz mit ihrer abwartenden Haltung einen starken Anstieg der Fälle verkraften mussten.
Die Studie kommt auch zu einem anderen Schluss: Nur wenige Kantone konnten eine dezentrale Infrastruktur für Tests aufbauen. Auch bei den wiederholten Inhouse-Abstrichen, die nur im Kanton Graubünden erfolgreich durchgeführt wurden, sind die Ergebnisse sehr schlecht.
Erschwerend kam hinzu, dass der Informationsfluss zwischen den Kantonen aufgrund der unterschiedlichen Rückverfolgungssysteme nicht gewährleistet werden konnte. Ein einheitliches, landesweit einsetzbares System zur Ermittlung von Kontaktpersonen ist daher mehr als notwendig.
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Intensivstationen waren (fast) an der Grenze ihrer Kapazität
Ein völliger Zusammenbruch des Gesundheitssystems in der Schweiz konnte bisher knapp vermieden werden. Allerdings gab es erhebliche Unterschiede zwischen den Kantonen, was die Fähigkeit der Intensivstationen anbelangt, die Krise zu bewältigen.
Auch die Auswirkungen auf andere Bereiche des Gesundheitswesens zeigten ein gemischtes Bild.
Verlagerungen (in Form von Überweisungen geplanter Eingriffe) gab es nur wenige im Tessin und, trotz hoher Inanspruchnahme der Versorgung, auch in Luzern, Genf und der Waadt.
Mit Ausnahme von Basel-Stadt, Solothurn und Graubünden deuten die meisten Daten von Avenir jedoch darauf hin, dass die Spitäler während des Pandemiehochs eine Art „verdeckte Triage“ durchführten.
Die Tatsache, dass viele Kantone nicht in der Lage waren, die Betriebskapazität ihrer Intensivstationen in der kritischsten Zeit aufrechtzuerhalten, lässt nichts Gutes für die weitere Entwicklung der Pandemie erwarten.
Entschädigung für verdienstausfall COVID: erweiterter Anspruch
Impfkampagnen sind nicht optimal, außer in TI, ZG und FR
Die Immunisierung der Bevölkerung ist der wichtigste Faktor im Kampf gegen die Pandemie.
Bereits bei den älteren Bevölkerungsgruppen, bei denen die Bereitschaft zur Impfung fast als selbstverständlich angesehen werden kann, haben die Kantone ein unterschiedliches Tempo an den Tag gelegt.
Am schnellsten waren die Kantone Tessin, Zug und Freiburg, während die Aufklärungskampagnen in Obwalden und Appenzell Innerrhoden die niedrigen Impfraten nicht erhöhen konnten.
Die Kantone sind im Gleichschritt marschiert, sowohl in ihren Bemühungen, die Impfbereitschaft der Bevölkerung zu erhöhen, als auch in ihren Informationspflichten.
Diese wichtigen Aspekte wurden landesweit zu lange vernachlässigt. Auch bei der lahmen Organisation der Auffrischungsimpfungen bleibt der Eindruck eines zögerlichen Vorgehens bestehen.
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Jeder Kanton auf seine Weise bei der Hilfe: Umsatz oder Einschränkungen?
Mit den Härtefallentschädigungen haben die eidgenössischen Räte ein Unterstützungsprogramm für die von der Pandemie betroffenen Unternehmen zusammengestellt, das es den Kantonen überlässt, die Hilfen für Unternehmen mit einem Jahresumsatz von weniger als 5 Millionen zu gestalten, aber eine 70%ige Finanzierung durch den Bund sicherstellt.
Ungeachtet der Tatsache, dass sich die nicht rückzahlbaren Subventionen als die vorherrschende Form erwiesen haben, lässt die Verknüpfung der Entschädigung mit der Dauer der Einschränkungen (und nicht mit dem Umfang der tatsächlich entstandenen wirtschaftlichen Verluste) in vielen Kantonen Zweifel aufkommen.
Nur Basel-Stadt, Graubünden, Solothurn, Waadt und Wallis haben die Entschädigungen nach rein wirtschaftlichen Kriterien berechnet.
Da die Härtefallregelung ein Kriseninstrument für künftige Notsituationen bleiben soll, ist es unumgänglich, den Zweck des Instruments und die damit verbundene Aufgabenteilung zu überdenken.
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Offene Schulen: zwei Tests pro Woche nur in Zug und Graubünden
Die Entscheidung, ob die Schulen offen bleiben oder geschlossen werden, liegt bei den Kantonen. Nach der ersten Welle wurde der Unterricht in den meisten Kantonen normal weitergeführt, da der Fernunterricht für das gesamte Schulsystem enorme Schwierigkeiten mit sich brachte.
Der Entscheid, die Schulen offen zu halten, wurde von rigorosen Plänen begleitet, die jedoch je nach den eingesetzten finanziellen und personellen Ressourcen sehr unterschiedlich ausfielen.
Im Herbst 2021, als die Fallzahlen sehr hoch waren, waren Zug und Graubünden die einzigen Kantone, die zwei Tests pro Woche durchführten.
Solange die Pandemie unser Leben prägt, wird das Fernstudium oder eine hybride Form des Unterrichts Realität bleiben, zumindest für die Studierenden, die eine gewisse Quarantänezeit einhalten müssen.
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Schlussfolgerung: Die Kantone in die Pflicht nehmen, aber unter drei Bedingungen
Der Föderalismus hat den Pandemie-Test bestanden, wie die Pionierkantone Graubünden, Tessin und Zug zeigen, die in allen Bereichen beachtliche Leistungen erbringen.
Die vergleichende Analyse zeigt aber auch, dass die Herausforderungen in einigen Fällen an den Rand des Machbaren geführt haben. Ausrutscher und Versäumnisse wurden von der lokalen Führungsschicht verschuldet oder waren die Folge von institutionellen Mängeln des heutigen föderalen Systems.
Die wichtigsten Lehren, die wir aus der Pandemie ziehen können, sind die folgenden:
1) Gründlichere Vorbereitung auf die Krise: Im Bereich des Gesundheits- und Bevölkerungsschutzes haben die Kantone nicht genügend detailliert geplant. Der Klärung der Zuständigkeiten in der Notfallvorsorge wurde zu wenig Bedeutung beigemessen. Die Krisenarbeit sollte sich auch auf das Auftreten von Notfällen unbekannter Natur erstrecken.
2) Schärfung des Bewusstseins für den Krisenstatus und vorausschauende Interventionen: Teilweise fehlte das Bewusstsein für die Notwendigkeit, kurzfristige Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie zu ergreifen, z.B. Organisation der Kontaktsuche im Sommer 2020, fehlende niederschwellige Tamponversorgung im Herbst 2020, einfallslose Bemühungen zur Erhöhung der Impfraten im Sommer 2021 oder Auffrischungsdosis im Winter 2021/22.
Sich in falscher Sicherheit zu wiegen, erklärt sich in der Schweiz wohl aus der Lebenserfahrung vergangener Jahrzehnte, erwies sich aber während der Pandemie als schlechter Ratgeber.
3) Reorganisation zur Stärkung des Föderalismus und Klärung der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen. Die Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Kantone wird auch durch die unklare Aufgabenzuweisung zwischen den verschiedenen Staatsebenen und den zuständigen Direktorenkonferenzen verzerrt.
Was in der Öffentlichkeit als „Zögern und Zaudern“ der Kantone interpretiert wird, ist das Ergebnis einer aus staatspolitischer Sicht als kritisch zu betrachtenden Zwischenebene, die eine sachgerechte Entscheidungsfindung in den einzelnen Kantonen behindert.
Die Überlegungen gelten insbesondere für die Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektoren.