Österreichische Neutralität nach dem Einmarsch in die Ukraine
Während der Einmarsch in der Ukraine in mehreren Ländern zu einer Welle der Unterstützung für die NATO-Mitgliedschaft führte, sind die Österreicher nach wie vor der Meinung, dass ihr Land neutral bleiben sollte.
Kurz und bündig
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- Die Mehrheit der Österreicher will nicht, dass ihr Land der NATO beitritt
- Sie erwarten, dass Österreich bei der Verteidigung mit anderen europäischen Ländern zusammenarbeitet
- Politische Stimmen, die ein Ende der Neutralität fordern, sind noch in der Minderheit
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Der Einmarsch Russlands in der Ukraine führte in den nordischen Ländern zu einem dramatischen Meinungsumschwung in der Frage der Neutralität. Jahrelang hatten Umfragen in Finnland gezeigt, dass zwischen 22 und 25 Prozent der Befragten einen NATO-Beitritt befürworteten, selbst nach der Annexion der Krim und den vom Kreml inszenierten Sezessionsaufständen in der Ostukraine. Ende Februar 2022 sprachen sich jedoch 50 Prozent der Bevölkerung dafür aus. Im Juni waren es bereits 75 Prozent.
In Schweden war die Verschiebung zwar nicht so drastisch, aber dennoch deutlich. Im Juni sprachen sich 60 Prozent für einen NATO-Beitritt aus. Auch dort hatte die russische Aggression gegen die Ukraine im Jahr 2014 wenig Einfluss auf die öffentliche Meinung. Im Jahr 2017 wollten nur 32 Prozent der Befragten die Neutralität aufgeben.
Selbst in der Schweiz, die seit 1815 offiziell neutral ist, sprachen sich in einer Umfrage im Mai und Juni 52 Prozent der Befragten für eine engere Zusammenarbeit mit der NATO aus. Es setzt sich immer mehr die Erkenntnis durch, dass sich kleine Staaten nur durch eine Partnerschaft mit anderen Staaten verteidigen können – was unter anderem eine Koordinierung der Waffensysteme erfordert. Zum ersten Mal seit zwei Jahrzehnten ist der Anteil der Schweizer Bürger, die die Neutralität befürworten, zurückgegangen, und zwar auf 89 Prozent gegenüber 96 Prozent im Januar.
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Wachsende Unterstützung
Unterdessen ist die Unterstützung für die Neutralität in Österreich nach wie vor hoch und nimmt weiter zu. Einundneunzig Prozent der Befragten gaben an, dass ihnen die Neutralität wichtig ist, wobei 70 Prozent sie als „sehr wichtig“ und 21 Prozent als „eher wichtig“ bezeichneten. Im Jahr 2019 hatten nur 81 Prozent gesagt, dass ihnen die Neutralität wichtig ist. Befragt nach der Aussicht auf einen NATO-Beitritt lehnten in den letzten Umfragen fast zwei Drittel der Österreicher (64 Prozent) diesen ab. Nur 16 Prozent sprachen sich dafür aus.
Verglichen mit der Schweizer Armee ist das österreichische Bundesheer in einem erbärmlichen Zustand.
Diese Haltung zur Neutralität spiegelt die mangelnde militärische Bereitschaft der Bevölkerung wider. Eine 2014 in 64 Ländern durchgeführte Umfrage ergab, dass 25 Prozent der Westeuropäer bereit wären, für ihr Land zu kämpfen. Die regionalen Unterschiede waren beträchtlich, insbesondere zwischen den neutralen Ländern. In Finnland erklärten sich 74 Prozent bereit, für die Verteidigung ihres Landes zu den Waffen zu greifen, in Schweden 55 Prozent und in der Schweiz 39 Prozent. In Österreich waren es nur 21 Prozent.
Umgeben von fünf NATO-Mitgliedern fühlen sich die Österreicher trotz des Krieges in der Ukraine weitgehend geschützt. Der Schock, den der Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in die benachbarte Tschechoslowakei im August 1968 auslöste, ist weitgehend vergessen. Damals trennte der Eiserne Vorhang Österreich von den Nachbarländern im Norden, Osten und Süden. Doch seit der Integration des Landes in die Europäische Union im Jahr 1995 und der Beteiligung österreichischer Soldaten an Militäroperationen in Krisengebieten gilt es als selbstverständlich, dass Österreich im Falle eines Angriffs auf externe Hilfe zählen kann. Allein der Beitritt zur EU war ein deutliches Zeichen für den Übergang zu einer erweiterten Neutralitätsauffassung.
Neutralität nach österreichischem Vorbild
Der österreichische Spitzendiplomat Thomas Mayr-Harting erinnerte in einem Gastkommentar für die Zeitung Die Presse daran, dass die Österreicher „immer für die Neutralität, aber nicht unbedingt für die Verteidigung im Alleingang waren. Selbst in den Jahren des Kalten Krieges – und in den besten Zeiten der österreichischen ‚Weltraumverteidigung‘ – war die (unausgesprochene) Grundannahme immer, dass wir uns im Falle eines Angriffs von außen so lange verteidigen können müssen, bis uns ‚andere‘ zu Hilfe kommen.“
Wenn Österreich aber auf die Verteidigung im Rahmen westlicher Staaten setze, so Mayr-Harting, müsse das Bundesheer interoperabel sein und nach NATO-Standards ausgebildet werden. Die NATO-Partnerschaft für den Frieden (PfP), an der Österreich seit 1995 teilnimmt, biete eine gute Basis für eine solche Zusammenarbeit.
Eingebettet in die Strukturen der EU und gestützt auf die EU-Beistandsklausel, die Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten einfordert, schätzen 55 Prozent der befragten Österreicherinnen und Österreicher die Lage ihres Landes als „sicher“ oder „eher sicher“ ein, während nur 20 Prozent Europa insgesamt für sicher halten. Dennoch halten die Österreicher das Bundesheer für „sehr“ oder „eher wichtig“, nicht zuletzt, weil es sich im Katastropheneinsatz bewährt hat. In der kurz nach Kriegsbeginn durchgeführten Umfrage sprachen sich 50 Prozent der Befragten für eine Aufstockung des Verteidigungsbudgets (das im Jahr 2021 0,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts beträgt) und die Ausstattung des Bundesheeres mit schweren Waffen aus, um Angriffe abwehren zu können.
Die Wurzeln der Neutralität
Verglichen mit der Schweizer Armee befindet sich das österreichische Bundesheer in einem erbärmlichen Zustand. Der Verteidigungsexperte Franz-Stefan Gady schätzt, dass es 10 bis 20 Jahre dauern würde, um in Österreich ein einsatzfähiges Heer aufzubauen, das mit jenem der Schweiz konkurrieren könnte. Kritiker der Neutralität werfen Österreich vor, in der Sicherheitspolitik Trittbrettfahrer der NATO zu sein.
Die österreichische Neutralität begann mit dem Moskauer Memorandum vom April 1955. Um den „engsten Abschluss des österreichischen Staatsvertrages“ zu erreichen, räumte die österreichische Delegation in Moskau ein, dass Österreich keinem Militärbündnis beitreten und keine Militärstützpunkte auf seinem Territorium zulassen werde. Die österreichische Regierung gab eine Erklärung ab, in der die „ständige Neutralität nach Schweizer Vorbild“ festgeschrieben wurde. Die Sowjetunion erklärte sich daraufhin bereit, den österreichischen Staatsvertrag zu unterzeichnen und stimmte dem Abzug aller Besatzungstruppen zu.
Am 26. Oktober 1955 beschloss der österreichische Nationalrat (Parlament) das Neutralitätsgesetz. Die Neutralität ist jedoch nicht im Staatsvertrag verankert und unterliegt daher nicht der Auslegung durch die ehemaligen Besatzungsmächte. Sie ist durch keinen völkerrechtlichen Vertrag garantiert.
Dagegen ist die Verpflichtung zur „Wahrung und Verteidigung der immerwährenden Neutralität“ in der Verfassung verankert. Sie könnte nur mit einer Zweidrittelmehrheit im Nationalrat aufgehoben werden. Keine der im Parlament vertretenen Parteien fordert derzeit die Aufhebung der Neutralität.
In Brüssel heißt es, dass Österreich nur zögerlich in die Verteidigungsgemeinschaft aufgenommen wird.
Um die Jahrtausendwende war das noch anders. Damals initiierte die schwarz-blaue Koalitionsregierung unter Wolfgang Schussel von der christdemokratischen Österreichischen Volkspartei (ÖVP) eine Debatte über einen NATO-Beitritt. Die Initiative scheiterte, weil die Sozialdemokratische Partei Österreichs (SPO) den Antrag ablehnte und eine Änderung oder Streichung des Neutralitätsgesetzes ihre Zustimmung erforderte. Als der Sozialdemokrat Alfred Gusenbauer 2006 die Nachfolge von Schussel antrat, war das Thema vom Tisch. Nur die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) beharrte auf dem NATO-Beitritt, bis das Thema nach erheblichen innerparteilichen Veränderungen allmählich in den Hintergrund trat. Unter ihrem Vorsitzenden Herbert Kickl nimmt die FPÖ heute eine neutrale, aber im Wesentlichen russlandfreundliche Position zum Krieg in der Ukraine ein.
Nach dem russischen Einmarsch gab es vereinzelte Stimmen in der ÖVP, die einen NATO-Beitritt forderten. Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) erklärte jedoch: „Österreich war neutral, Österreich ist neutral, Österreich wird auch neutral bleiben.“
Auch Außenminister Alexander Schallenberg (OVP) erklärte, dass in einer Welt, „in der die wirtschaftlichen, militärischen und geistigen Konflikte offener geworden sind, Neutralität wieder ein Wert sein könnte.“
Forderungen nach Veränderung
Die SPO ist der Meinung, dass ein neutrales Österreich in einer Vermittlerrolle mehr zum Frieden beiträgt, als wenn es Mitglied eines Militärpaktes wäre. Nur die linksliberalen NEOS bezweifeln, dass die Neutralität noch die beste Lösung für Österreich ist.
In einem „offenen Brief an den Bundespräsidenten, die Bundesregierung, den Nationalrat und das österreichische Volk“ forderten mehr als 50 österreichische Sicherheitsexperten, Diplomaten, Unternehmer, Politiker und Kolumnisten im Mai die Verabschiedung einer neuen Sicherheitsdoktrin. Die Neutralität sei nie auf ihre aktuelle Zweckmäßigkeit hin überprüft, sondern „zu einem vermeintlich unantastbaren Mythos erhoben worden“, argumentieren die Unterzeichner. Unter ihnen befinden sich Brigadegeneral des Oesterreichischen Bundesheeres Walter Feichtinger und der fruehere Bundesverteidigungsminister Friedhelm Frischenschlager, sowie die linksextremen Kolumnisten Robert Misik und Julya Rabinowich.
Österreich habe die zunehmende Bedrohung zu lange vernachlässigt, heißt es in dem Brief. Heute sei das Land „unvorbereitet und befindet sich in der schwersten sicherheitspolitischen Krise Europas seit 1945“. Die Unterzeichner haben unterschiedliche Meinungen zur Neutralität oder zum NATO-Beitritt, sind aber alle „überzeugt, dass der Status quo unserer Sicherheitspolitik nicht nur unhaltbar, sondern gefährlich für unser Land ist.“
Die NATO hat sich nicht zu der Debatte in Österreich geäußert, die noch nicht wirklich begonnen hat. Es heißt, Brüssel zögere, Österreich in die Verteidigungsgemeinschaft aufzunehmen. Der Beitrag, den die NATO von dem kleinen Land erwartet, kann auch ohne Beitritt erfüllt werden.
Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass eine oder mehrere der im österreichischen Parlament vertretenen Parteien in dieser oder in der nächsten Legislaturperiode einen Antrag auf Aufhebung des Neutralitätsgesetzes einbringen werden. Dies wäre auch dann nicht der Fall, wenn der russische Krieg gegen die Ukraine eskalieren sollte.
Author: Karl-Peter Schwarz
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