Warum die Schweiz mehr in Start-ups investieren sollte

Der Bund hat alle Mittel, sich als neue “Einhorn-Nation” vorzustellen, sofern er das Stigma des Scheiterns vermeidet und “querdenkt”

Eine Fülle von Studien und Berichten deklariert die Schweiz als globalen Motor für Innovation und Wettbewerbsfähigkeit. Dies sollte theoretisch einen fruchtbaren Boden für die Entwicklung neuer Unternehmen und die Beschleunigung ihres Wachstums zu Global Players bieten. Diese zugrundeliegende Stärke scheint sich jedoch nicht vollständig in “Bodenkraft” im Startup-Ökosystem im ganzen Land umzusetzen und stellt somit ein gesamtschweizerisches Innovationsparadoxon dar.

Dies zeigt, dass großartige Rahmenbedingungen möglicherweise nicht ausreichen, um leistungsstarke Startups zu fördern, und dass Innovation auch eine Denkweise ist, die in der Gesellschaft gefördert werden muss.

Die Eidgenossenschaft ist die Nummer eins in Sachen Innovation

Seit 2011 ist die Schweiz laut dem Global Innovation Index (GII), der jährlich von der Cornell University, INSEAD und der World Intellectual Property Organization (WIPO) veröffentlicht wird, das innovativste Land der Welt. Die letztgenannte Leistung hängt auch mit einer der Hauptstärken der Schweiz in diesen Rankings zusammen, nämlich der Rate der Patentanmeldungen.

Während diese Rankings stark von der Qualität der Universitäten und ihrer Forschung sowie den hohen Ausgaben der Unternehmen für Forschung und Entwicklung getragen werden, unterstreichen sie auch die Bedeutung dessen, was man als eigene institutionalisierte, inkrementelle Innovation des Landes bezeichnen könnte.

Man könnte gegen die unternehmerische und disruptive Innovation argumentieren, die am häufigsten von Start-ups und Unternehmern durchgeführt wird. Leider wird disruptive Innovation oft mit kreativer Unordnung in Verbindung gebracht, ein Zustand, der mit der Grundvoraussetzung für den Erfolg der Schweiz unvereinbar ist: ihrer Stabilität.

Unternehmergeist und die vielen KMU in der Schweiz

Der Schweiz fehlt es nicht an Unternehmergeist. In der Tat wurde die Wirtschaft des Landes dank der kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) aufgebaut und gedeiht weiterhin. Diese machen 99,7 Prozent der Unternehmen aus und beschäftigen fast 68 Prozent der Schweizer Arbeitskräfte. Im Jahr 2016 wurden in der Schweiz mehr als 39.000 neue Unternehmen gegründet, 300 davon sind sogenannte Start-ups.

Unbemerkt von der Öffentlichkeit sind viele dieser KMUs im Verborgenen sehr erfolgreich und weltweit führend in ihren Bereichen, mit widerstandsfähigen Unternehmen, die auf höchsten Servicestandards oder den neuesten technologischen Fortschritten aufbauen, die oft im eigenen Haus entwickelt werden.

Die Kultur des Scheiterns oder deren Fehlen?

Diese starke unternehmerische Tradition wird tendenziell durch eine bekannte Risikoaversion ausgeglichen. Tatsächlich fördern die Institutionen und sozialen Strukturen des Landes sogar konservatives, risikoscheues Verhalten. Man kann argumentieren, dass der Erfolg der Schweizer Institutionen, des politischen Systems und der Wirtschaft im Allgemeinen auf Stabilität und konservativen Entscheidungen aufgebaut ist. Dies kann aber auch das Haupthindernis für die Entwicklung eines echten Risikoökosystems sein, das die Innovationskraft des Landes repräsentiert.

“Forget Fail Fast”, eine Studie der Agentur Deloitte Touche Tohmatsu aus dem Jahr 2018, stellt fest, dass “echte Innovation oft die Erlaubnis zum Scheitern erfordert; andernfalls könnten Innovatoren das Gefühl haben, dass die Risiken, etwas wirklich Neues zu versuchen, einfach zu hoch sind.” Das heißt nicht, dass das Land anfangen sollte, das Scheitern zu fördern, sondern dass Scheitern erlaubt sein sollte, frei von einem negativen sozialen Stigma.

Die Angst vor dem Scheitern ist stark mit der bereits erwähnten Risikoaversion korreliert und bleibt in der Schweizer Mentalität erhalten. Dies hält viele junge Unternehmer davon ab, einen Vertrauensvorschuss zu geben, wenn sie sich entscheiden, ein neues Unternehmen zu gründen, oder einen Investor davon ab, auf seinen Instinkt zu hören, wenn er sich entscheidet, erhebliches Kapital in ein neues Unternehmen zu investieren.

Wie man ein risikoallergisches Unternehmen umgeht

Im Vergleich zu anderen Ländern wachsen Schweizer Start-ups in der Regel deutlich langsamer. Das könnte daran liegen, dass sie oft sehr komplexe Produkte für hochspezialisierte Anwendungen entwickeln und damit viel tiefgreifendere Forschung benötigen als ein typisches Start-up im Internetzeitalter. Der kulturelle Faktor kann auch dazu führen, dass Schweizer Unternehmer weniger riskante Wege und Strategien mit einer hohen Erfolgswahrscheinlichkeit wählen. Schließlich könnte es mit der Verfügbarkeit von Risikokapital zusammenhängen.

Allerdings hat sich das Ökosystem der Schweizer Startup-Finanzierung in den letzten Jahren deutlich verbessert. Dies hat zum Rekordwert von CHF 1,24 Milliarden beigetragen, die 2018 in solche Unternehmen investiert wurden. Allerdings stammt ein hoher Anteil des investierten Kapitals immer noch hauptsächlich aus dem Ausland (über 70 Prozent im Jahr 2017). Während die Seed-Finanzierung in gesunder Weise zugenommen hat, bleibt es für Start-ups eine große Herausforderung, Wachstumskapital zu finden, das von institutionellen Investoren eingebracht werden kann und es ihnen ermöglicht, die nächste Stufe zu erreichen.

Ab Februar 2019 ist der neue 500 Millionen Franken schwere Swiss Entrepreneurship Fund lanciert, der von Alt-Bundesrat Johann Schneider-Ammann öffentlich unterstützt wird. Dies ist ein wichtiger Schritt zur Stärkung der Finanzierungsmöglichkeiten für lokale Start-ups mit hohem Potenzial.

Die Schweiz als “Unicorn Nation” der Zukunft

Als Innovationsweltmeister steckt das Schweizer Venture-Ökosystem noch in den Kinderschuhen und hat einen großen Nachholbedarf gegenüber den globalen Industrie-Hubs. Es sind jedoch alle Zutaten vorhanden, um ein gutes Gericht zu verpacken.

Die Förderung einer unternehmerischen Denkweise, zusammen mit einer größeren Risikobereitschaft der Schweizer Investorengemeinschaft und einer allgemeineren Akzeptanz des Scheiterns als Lernchance, könnte das wahre Potenzial der Schweizer Eidgenossenschaft freisetzen, eine Reihe von sogenannten “Einhorn”-Start-ups zu gründen, also jene innovativen – noch nicht börsennotierten – Unternehmen, die in kurzer Zeit eine Marktbewertung von mindestens 1 Milliarde Dollar erreicht haben.

Damit soll das traditionelle Bekenntnis zu Stabilität und wohlüberlegter Entscheidungsfindung nicht in Abrede gestellt werden. Man kann jedoch mit Fug und Recht behaupten, dass sich das System weiterentwickeln sollte, um junge Unternehmer dabei zu unterstützen, kalkulierte Risiken einzugehen und einzigartige Chancen zu ergreifen, wenn sie sich bieten.

Eine rationale Alternative zu ultraniedrigen Zinssätzen

Im aktuellen wirtschaftlichen Umfeld mit niedrigen Zinsen sind alle institutionellen Investoren auf der Suche nach attraktiven Renditen. Würden 0,5 Prozent aller von Schweizer Pensionskassen verwalteten Gelder in Ventures investiert, würden inländische Investoren bereits fast 4 Milliarden Franken einbringen. Vielleicht sollte zusätzlich zu Initiativen wie dem Swiss Entrepreneurs Fund eine systematischere Vergabe von Kapital an Start-ups umgesetzt werden. Ein stärkeres Förderumfeld könnte auch potenzielle ausländische “Einhorn”-Unternehmen (bisher sind das die USA und China) anlocken und zur Ansiedlung im Alpenland bewegen.

Die Schweiz könnte von der Nummer eins bei institutioneller und akademischer Innovation weiter wachsen und zu einem echten Innovationstreiber und einer Drehscheibe für die Entwicklung neuer globaler Geschäftsmodelle werden. Das Land ist historisch gesehen ein Pionier und ist immer unabhängig seinen eigenen Weg gegangen und hat im Vergleich zu anderen Nationen über den Tellerrand geschaut. Und auch heute ist es an der Zeit, “über den Tellerrand” zu schauen.