Quo vadis, Europa?

Nach dem katastrophalen Rückzug aus Afghanistan wurde Europa brutal mit seiner Inkompetenz als geopolitischer Akteur konfrontiert

Nach dem katastrophalen Rückzug aus Afghanistan wurde Europa auf brutale Weise mit seiner Unfähigkeit als geopolitischer Akteur konfrontiert. Der Kontinent muss die Rolle der Europäischen Union neu bewerten und über Brüssel hinausschauen, um eine kohärente Außenpolitik zu entwickeln.

Der schmerzhafte Exodus aus Afghanistan hat viele Verlierer hervorgebracht. Die Menschen, die für die Besatzungstruppen gearbeitet haben, wurden zurückgelassen und verraten. Die gesamte afghanische Bevölkerung wird unter dem Joch der Taliban leiden. Und die abgewanderten Westmächte haben ihren Ruf verloren, ebenso wie ihre Illusionen, dass eine auf Regeln basierende multilaterale Ordnung nur nach ihren eigenen Maßstäben durchgesetzt werden kann.

Europa musste sich mit seiner völligen Ineffektivität als globaler geopolitischer Akteur abfinden. In den Hauptstädten des alten Kontinents gaben sich viele der naiven Illusion hin, dass Präsident Bidens Slogan „America is back“ bedeutet, dass Washington die Europäer als gleichberechtigte Partner behandeln würde. Diese Illusion war nur von kurzer Dauer. Die Politik von Präsident Biden lief im Wesentlichen auf eine geringere Zusammenarbeit hinaus als in den „America first“-Tagen von Präsident Trump. Die neue Regierung scheint nach dem Motto „America only“ zu handeln.

Europa war machtlos, die Katastrophe zu verhindern, und die Evakuierung war verpfuscht und katastrophal chaotisch. Die einzige Reaktion der Politiker war, sich zu beschweren.

„Eine gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik kann sich nicht entwickeln, solange die Mitgliedstaaten durch Überregulierung erstickt werden“

Man würde erwarten, dass die Ereignisse als Weckruf dienen. Doch das deutsche Beispiel ist ernüchternd. Die politischen Kreise und die Medien sind mehr mit dem Wahlkampf für das neue Parlament und indirekt mit dem neuen Kanzler beschäftigt, der die verbrannte Erde erben wird, die Angela Merkel nach 16 Jahren ihrer Herrschaft hinterlassen hat. Deutschland hatte während dieser Zeit Truppen am Hindukusch, aber Kanzlerin Merkel zeigte wenig Interesse. London scheint die einzige Hauptstadt zu sein, in der eine Neubewertung vorgenommen wird. Frankreich erwies sich als realistischer und begann im Mai dieses Jahres mit der Evakuierung von afghanischen Mitarbeitern und Kollaborateuren, der am stärksten gefährdeten Gruppe. Aber insgesamt reagierte Europa wie ein Hühnerschwarm, der von einem Raubtier angegriffen wird.

Beengtes Haus

Nach dem Ersten Weltkrieg begannen die Befürworter der europäischen Integration, die Schaffung eines Binnenmarktes und eine koordinierte Außen- und Sicherheitspolitik zu fordern. Die Paneuropäische Union wurde gegründet.  Vor allem aber sollten alle anderen Aufgaben von den Befürwortern lokal gelöst werden. Die Bewegung wurde von den Nationalisten, die damals in Europa vorherrschten, heftig angefeindet, kehrte aber nach dem Zweiten Weltkrieg zurück. Der glühende Verfechter der Integration, Erzherzog Otto von Habsburg, der schließlich Präsident der Paneuropäischen Union wurde, beschrieb das Modell als „europäisches Dorf“ und nicht als „europäisches Haus“ – ein gefährlicher Slogan, der später, in den 1980er Jahren, wieder verwendet wurde. In einem europäischen Haus würden die europäischen Nationen durch eine Reihe von Regeln eingeengt und gegängelt. Doch in einem europäischen Dorf, in dem jedes Haus autonom und einzigartig ist, können nur gemeinsame Interessen wie Sicherheit und Infrastruktur gemeinsam behandelt werden.

Europa braucht eine gesunde Integration, aber keine Harmonisierung.

Leider läuft der derzeitige Harmonisierungswahn – der auch den Brexit ausgelöst hat – darauf hinaus, in einem streng regulierten europäischen Haus zu leben. Eine gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik kann sich nicht entwickeln, solange die Mitgliedsstaaten in einer Überregulierung ersticken.

„Europa hat seine starke Wirtschaft durch Deregulierung, Unternehmertum und Wettbewerb entwickelt, nicht durch staatliche Eingriffe“

Das Konzept, das ursprünglich und bis vor kurzem für einen gut funktionierenden Binnenmarkt sorgte, ist nun durch übermäßige Regulierung, Partikularinteressen und Probleme größerer Mitgliedsstaaten bedroht. So fordern beispielsweise Frankreich und Deutschland in einem egoistischen und heuchlerischen Akt die Harmonisierung der sozialen Sicherheit. Dies würde den gesunden Wettbewerb ausschalten und dem Prinzip des freien Austauschs, insbesondere von Dienstleistungen, schaden. Das würde den mitteleuropäischen Mitgliedsstaaten schaden. Ein weiteres Problem ist die Notwendigkeit ständiger Finanztransfers an die südeuropäischen Länder, die ihnen langfristig sehr schaden, da der Geldfluss die lokale Bürokratie aufbläht und den Regierungen falsche Anreize gibt.

Europa hat seine starke Wirtschaft durch Deregulierung, Unternehmertum und Wettbewerb entwickelt, nicht durch staatliche Eingriffe.

Der GIS-Experte Professor Alberto Mingardi bietet einen treffenden Vergleich: „Die Grundidee für die heutige Europäische Union war eine große Schweiz. Sie hat sich dann nach dem französischen Modell entwickelt und das Ergebnis ist ein großes Italien.“ Seit der Einigung Italiens in den 1860er Jahren gab es ständige Geldströme von Nord nach Süd. Die Gelder dienten dem Aufbau eines überdimensionierten Verwaltungsapparates und behinderten die Entwicklung einer gesunden Wirtschaft – ganz zu schweigen vom Aufstieg der Mafia, der ebenfalls eine Folge der Einigung war.

Über den Tellerrand schauen

Die Europäische Union hat sich in der Vergangenheit als äußerst wirksam erwiesen, wenn es darum ging, nationale Monopole oder Oligopole aufzubrechen, was zum Beispiel Österreich sehr geholfen hat. Dies trug auch zur Entwicklung Mitteleuropas bei, ebenso wie der starke Fortschrittswille der dortigen Bevölkerung. Nun aber wird Brüssel immer mehr zum Spielplatz von Besitzstandswahrung, Zentralisierung und Harmonisierung. Die gefährliche Behauptung, die Stärke Europas liege darin, eine „regulatorische Supermacht“ zu sein, ist zwar für viele ein Trost, hat aber blutige Folgen.

Man könnte vernünftigerweise zu dem Schluss kommen, dass die EU auf eine Institution zur Regulierung und zum Schutz des Binnenmarktes sowie auf einige notwendige Infrastrukturmaßnahmen wie Energiesicherheit und Stärkung der globalen Wettbewerbsfähigkeit durch die Wahrung eines stärkeren internen Wettbewerbs verkleinert werden sollte. Anstatt sich für die kurzsichtige Eitelkeit zu entscheiden, eine „regulatorische Supermacht“ zu sein, sollte Europa darauf abzielen, wieder ein Dorf zu werden, das aus verschiedenen autonomen Häusern besteht, anstatt ein einziges mittelmäßiges Haus zu sein. Doch nun werden der gemeinsame Haushalt und die Institutionalisierung der Transferunion den Mitgliedsstaaten noch mehr Unabhängigkeit nehmen.

Wenn es darum geht, eine koordinierte Außen- und Sicherheitspolitik zu schaffen, ist Brüssel nicht die ideale Plattform. Der Weg der Zentralisierung zu diesem Zweck wäre ein gefährlicher Weg, da die Mitgliedstaaten und Regionen noch mehr von der dringend benötigten Fähigkeit verlieren würden, ihre Probleme zu lösen. Und die Bilanz der Außenpolitik der Union ist – abgesehen von ihrer eigentlichen Berufung, dem Handel – bestenfalls dürftig. Vielleicht sollte man Brüssel überlassen, sich auf den Binnenmarkt und den Handel zu konzentrieren. Die Situation erfordert eine neue Plattform, die zu unkonventionellem Denken anregt. Solche Lösungen können utopisch erscheinen, aber manchmal gibt es keinen anderen Weg nach vorn.

„Eine wirksame europäische Verteidigung könnte eine Renaissance für die NATO sein“

Ein neues Forum zur Umsetzung einer solchen Vision könnte auch das Vereinigte Königreich einbeziehen, das selbstverständlich nicht von einer koordinierten oder gar gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ausgeschlossen werden sollte. Gleichzeitig müsste nicht jedes europäische Land in gleicher Weise teilnehmen. Die Beteiligung könnte an die unterschiedlichen Sicherheitsbedenken angepasst werden, die je nach Nähe zu Afrika, dem Nahen Osten oder Russland sehr unterschiedlich sind. Parallel dazu könnten wichtige Fragen, wie der Schutz des Handels oder Zwischenfälle wie die Evakuierung aus Afghanistan, gemeinsam angegangen werden. Eine wirksame europäische Verteidigung könnte auch eine Renaissance für die NATO bedeuten.

Die Vereinigten Staaten sind ein wichtiger Partner und Verbündeter, aber Europa sollte sich nicht abhängig machen.

Es bleibt zu hoffen, dass die Katastrophe in Afghanistan eine hilfreiche Debatte in Europa anstößt, an der sich auch das Vereinigte Königreich beteiligen wird. Was wir jetzt brauchen, ist ein Denken über die bestehenden Institutionen und Prozesse hinaus, wie es die ursprünglichen Befürworter der europäischen Integration getan haben.

Geopolitical Intelligence Services AG
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Der redaktionelle Beitrag stammt von der Informations- und Forschungsstelle „Geopolitical Intelligence Services“ (GIS) des Fürstentums Liechtenstein

La sede del Governo del Principato del Liechtenstein a Vaduz
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