Alain Berset in Verbindung mit der Nationalen Föderalismuskonferenz 2021

Alain Berset: “Föderalismus und die Dynamik der COVID Krise”

Referat der für das Schweizer Gesundheitswesen zuständigen Bundesrat an der Nationalen Föderalismuskonferenz 2021, die am 27. und 28. Mai in Basel stattfand

Bundesrat Alain Berset nahm am 27. Mai am Eröffnungstag der Nationalen Föderalismuskonferenz 2021 in Basel teil.
Er sprach das Thema der föderalen Gewaltenteilung in der Schweiz im Zusammenhang mit der jüngsten Coronavirus-Pandemie an.

In Basel findet am 27. und 28. Mai die “Konferenz zum Föderalismus” statt
Die Schweizer Bezirke? Noch Kinder eines kleinen Föderalismus

“Steckt der Föderalismus in der Krise? Muss er fundamental überdacht werden? Das suggerierten Schlagzeilen der letzten Monate. Die Antwort auf diese aufgeregten Fragen gibt uns die Geschichte.
Der vor ziemlich genau 200 Jahren verstorbene Napoleon sagte einst den aufschlussreichen Satz: „Ich wäre ausserstande, die Schweiz zu regieren. Je mehr ich über das Land nachdenke, umso überzeugter bin ich, dass die Verschiedenartigkeit seiner Teile es unmöglich macht, eine gemeinsame Struktur überzustülpen.“ Ein bemerkenswerter Befund von einem, der bekanntlich kein Verächter des Zentralismus war…
In der Tat: Die Schweiz ist föderalistisch – oder sie ist nicht.Wieso also hören wir trotzdem diese pauschale Kritik am Föderalismus? Ich glaube, die Kritik zeigt zweierlei: Erstens, dass diese Pandemie eine Jahrhundertkrise war und noch immer ist, auch wenn ein Ende jetzt – hoffentlich! – endlichabsehbar wird. Unsicherheit sind wir uns in der traditionell stabilen Schweiz kaum gewohnt – und schon gar nicht eine so grosseUnsicherheit, wie sie die Corona-Krise bedeutet – gesundheitlich, gesellschaftlich, wirtschaftlich. So fällt die Kritik manchmal wohl schärfer und grundsätzlicher aus, als die Faktenlage sie eigentlich rechtfertigt.
Und zweitens stellt eine Pandemie unser föderalistisches System natürlich auf die Probe, denn das Virus foutiert sich bekanntlich um den staatspolitischen Aufbau der Schweiz. Das Virus überwindet Ozeane – da können Kantonsgrenzen nicht mithalten. Folglich müssen wir unsere Einschätzungen über die Leistungsfähigkeit unseres Systems auch objektiv an der enormen Schwierigkeit der Aufgabe messen. Gefragt ist also eine differenzierte Analyse. Und keine aufgeregte staatspolitische Diskussion.
Die Corona-Krise lässt uns vieles wie unter dem Brennglas sehen: scharf konturiert,deutlich in seinen Schwächen und seinen Stärken – deutlicher, als wir das in ruhigen Phasen je hätten wahrnehmen können. Jeden Tag haben wir etwas über das Virus gelernt – und jeden Tag etwasüber unsere Gesellschaft. Über unsere politische Kultur. Und eben auch über die Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen.
Es war für den Bundesrat wichtig nicht einfach allein durchzuregieren, sondern stets im engen Gespräch zu bleiben mit den Kantonen,mit den einzelnen Branchen, nicht zuletzt auch mit den Bürgerinnen und Bürgern. Das hat die Entscheide des Bundesrats vielleicht etwas verlangsamt, aber dafür hat es sie verbessert.
Wie die Schweiz hat auch jedes andere Land der Welt die Krise aufgrund seiner Werte und seiner politischen Kultur zu bewältigen versucht. Das haben wir getan – und insofern haben wir unsere politische Kultur sogar gestärkt. Und nicht zuletzt wurde der Föderalismus auch gestärkt, weil er uns in Erinnerung gerufen hat, dass jederKanton auch eine Verantwortung für alle anderen Kantone trägt.
Für eine Bilanz ist es noch zu früh. Trotzdem die Frage: Haben es zentralistische Staaten besser gemacht? Nicht unbedingt. Und das könnte man durchaus als Erfolg verbuchen für unser komplexes System, auch wenn man diesen Erfolg nicht auf den ersten Blick erkennt.
Es lief aber nicht alles reibungslos. Es kam zu Verzögerungen, zu Missverständnissen, zu Koordinations-problemen. Zwischen Bund und Kantonen. Manchmal auch zwischen einzelnen Departementen. Aber auch, und das ist aus Sicht des Bundesrates fastein kleiner Trost, zwischenden Kantonen.
Alle diese Schnittstellen müssen wir im Rahmen einer Bilanz analysieren und die entsprechenden Schlüsse ziehen. Ähnlich, wie es 2014 in der Sicherheits-Verbunds-Übung geschehen ist, aus der ja 16 Empfehlungen fürdie Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen resultierten.
Man kann die Corona-Krise auch als Hauptprobe begreifen. Es werden neue, andere Krisen auf uns zukommen. Die Welt des 21. Jahrhunderts ist ohne Zweifel volatil. Und angesichts der volatilen Zeiten, in denen wir leben, brauchen eine bescheidenere Grundhaltung, auch was unsere politischen Prozesse betrifft.
Ja, wir haben viel voneinander gelernt in den letzten Monaten.Und wir werden auch weiterhin viel lernen müssen. Dass unser Selbstbild als perfektes Land in dieser Krise etwas gelitten hat, wird uns dabei helfen. Wenn wir das mit der nötigen Bescheidenheit, Neugier und – wieso nicht? – Freude angehen, dann werden wirden Föderalismus stärken und krisenfester machen. Und klar ist:Wir werden das zusammen machen. Und nur schon darin liegt ein grosses Potenzial der Vertrauensbildung und der Verbesserung bei den Prozessen.
Hier in Basel liegt der Vergleich des Föderalismus mit einer Tinguely-Maschine doch recht nahe. Kompliziert mit ihren vielen Einzelteilen, unübersichtlich in ihren Verstrebungen, scheinbar zwecklos vor sich hin ratternd.
Aber man sollte nicht vergessen: Die erste Skulptur, die Tinguely für die öffentliche Hand geschaffen hat, genauer für die Landesausstellung in Lausanne 1964 – diese Skulptur hiess „Heureka!“ – „Ich habe es gefunden!“. Das war natürlich ironisch gemeint von Tinguely – aber vielleicht liegt eine tiefere Ironie darin, dass die komplizierte, föderalistische Schweiz am Ende eben tatsächlichimmer gute Lösungen findet.
Wenn wir unsere föderalistische Maschine Schweizetwas ölen und ein paar Schrauben fester anziehen – dann bin ich überzeugt: Dem Föderalismus gehört nicht nur die Vergangenheitund die Gegenwart, sondern auch die Zukunft”.

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Das Logo der Ausgabe 2021 der "Nationalen Föderalismuskonferenz"
Das Logo der Ausgabe 2021 der „Nationalen Föderalismuskonferenz“