Digitale Geopolitik und der Aufstieg der Cyberkriegsführung

Europa muss umfassende Reformen durchführen, um sich vor der Digitalisierung der Wirtschaft, der Kommunikation und der Sicherheit zu schützen.

Kurz und bündig

                    • Kritische zivile Infrastrukturen sind in gefährlicher Weise Cyberangriffen ausgesetzt
                    • Akteure wie Russland, China und Nordkorea stellen eine zunehmende Bedrohung dar
                    • Die Europäische Union muss Reformen durchführen, um sich zu schützen
Hacker Cybersecurity Image by Franz Bachinger from Pixabay
Hacker Cybersecurity Image by Franz Bachinger from Pixabay

Mit der tragischen Wiederkehr der Geschichte und der Neupolarisierung der Welt in konkurrierende zivilisatorische Blöcke scheint die Globalisierung, wie wir sie in den letzten 30 Jahren kannten, dem Untergang geweiht zu sein. Ein klarer Beweis für diesen Paradigmenwechsel ist der anhaltende Anstieg der weltweiten Verteidigungsbudgets im neunten Jahr in Folge.

Das Stockholmer Friedensforschungsinstitut (SIPRI) schätzt die weltweiten Militärausgaben im Jahr 2023 auf 2,3 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts (BIP), wobei sich ein klares Kräfteverhältnis abzeichnet: Die Vereinigten Staaten stehen mit 37 Prozent der weltweiten Ausgaben (916 Milliarden Dollar) an der Spitze, gefolgt von China mit 12 Prozent der weltweiten Ausgaben (296 Milliarden Dollar). Russland, Indien und Saudi-Arabien vervollständigen die Top Five, während die Mitgliedsländer der Europäischen Union zusammen etwa 313 Milliarden Dollar oder 13 Prozent der weltweiten Ausgaben auf sich vereinen.

Gleichzeitig hat die rasante Digitalisierung der Volkswirtschaften den Technologieunternehmen so viel Auftrieb gegeben, dass sie nun für fast 30 Prozent der gesamten globalen Marktkapitalisierung verantwortlich sind und damit den Energie- und Finanzsektor überholt haben. Nachdem der Technologiesektor zwei Jahrzehnte lang das globale Wachstum angetrieben hat, stammen weniger als 15 Prozent der 500 größten Technologieunternehmen aus Europa, während über die Hälfte der Firmen aus den USA und etwa ein Viertel aus asiatischen Ländern stammen.

 

Verschärfte Angriffe

Jenseits konventioneller Konflikte wie dem Krieg Russlands gegen die Ukraine, den Bürgerkriegen in Myanmar, Syrien und Jemen oder Israels groß angelegter Terrorismusbekämpfung gegen die Hamas werden die Auseinandersetzungen im digitalen Bereich besonders heftig geführt. In der Tat hat die systematische Digitalisierung unserer Wirtschaft, unserer Verteidigungs- und Kommunikationssysteme die Konfliktzonen erweitert und die hybride Kriegsführung intensiviert, insbesondere im Hinblick auf Cyberangriffe und Desinformation.

Auch wenn dies auf den ersten Blick abstrakt erscheinen mag, hat diese neue Form der Konfrontation – auf globaler Ebene, zwischen Nationen oder Regionen – sehr konkrete Folgen.

Cyberangriffe haben sich vervielfacht und intensiviert, nicht nur in Europa, sondern auf der ganzen Welt, und gehen auf das Konto Russlands und anderer Schuldiger. Diese Angriffe betrafen Kommunikationsnetze wie Kyivstar, den wichtigsten Mobilfunkbetreiber der Ukraine, und das Viasat-Satellitennetz sowie Medienplattformen (mit Zielen wie Netflix und TikTok), Finanzinfrastrukturen (einschließlich der Europäischen Bankenaufsichtsbehörde) und Spitzentechnologieunternehmen (wie Nvidia und Samsung).

Das EU-Wettbewerbsrecht vernachlässigt Aspekte im Zusammenhang mit der Produktion, der Wettbewerbsfähigkeit zwischen verschiedenen globalen Regionen und nationalen Interessen.

Auch strategische Infrastrukturen, insbesondere im Energiesektor, wurden durch Cyberangriffe gefährdet, wie die Angriffe auf 6.000 deutsche und luxemburgische Windkraftanlagen im März 2022 oder der breit angelegte Angriff auf kritische dänische Energieinfrastrukturen im November 2023 zeigen.

Es gab auch groß angelegte, vielschichtige Vorfälle, wie den offensichtlich russischen Angriff auf Schweden im Januar, eine Woche bevor die Türkei dem NATO-Beitritt Schwedens zustimmte. Fast 120 Regierungsbüros sowie Kinos, Kaufhäuser und andere Geschäfte waren betroffen, was im ganzen Land ein Klima der Angst auslöste. Der schwedische Minister für Zivilschutz, Carl-Oskar Bohlin, erklärte damals, dass die Cybersicherheit für die gesamte Gesellschaft, sowohl für den öffentlichen als auch für den privaten Sektor, eine Priorität sein muss“.

Cyberangriffe wirken sich auch direkt auf die militärische Infrastruktur aus, wie das Durchsickern von amerikanischen und NATO-Dokumenten zeigt, in denen offenbar Strategien für die militärische Unterstützung der Ukraine im April 2023 beschrieben werden.

Tektonische Verschiebungen im KI-gestützten Banking

Der globale Konflikt

China lässt sich in dieser globalen Konfrontation nicht unterkriegen. Nach Angaben der US-Behörden hat das chinesische Hackernetzwerk „Volt Typhoon“ im Auftrag Pekings kritische Infrastrukturen infiltriert, insbesondere auf der Insel Guam, die einen wichtigen amerikanischen Militärstützpunkt beherbergt. Es heißt, dass das Netzwerk auch zivile US-Ziele in den Bereichen Kommunikation, Transport und Regierung angreift.

China war im Februar 2024 involviert, als es der Firma I-Soon, die sich als Computersicherheitsunternehmen ausgab, gelang, in die NATO und ausländische Regierungen sowie in Konten in sozialen Medien, persönliche Computer und öffentliche Einrichtungen in Thailand, Taiwan, Vietnam und anderswo einzudringen.

Nordkorea spielt eine weitere wichtige Rolle in diesem eskalierenden Konflikt. Das Cooperative Cyber Defence Centre of Excellence der NATO schätzt, dass Kim Jong-un inzwischen eine Armee von 6 800 Hackern zur Verfügung steht. Gleichzeitig wurden in einem kürzlich veröffentlichten Bericht der Vereinten Nationen 58 nordkoreanische Cyberangriffe festgestellt, die dem Regime fast 3 Milliarden Euro eingebracht haben könnten.

Um das ganze Ausmaß des Cyberwar-Phänomens zu erfassen, muss man von einer einfachen Prämisse ausgehen, die von westlichen Politikern oft vergessen wird: Alle digitalisierten Informationen oder Systeme, die auf digitaler Basis arbeiten, sind prinzipiell hackbar, und potenzielle Gegenmaßnahmen können Software, Hardware oder menschlicher Natur sein.

Die USA haben schnell erkannt, was bei Cybersicherheit, Cyberverteidigung und Desinformation in einer digitalen Welt auf dem Spiel steht. Washington stützt sich auf hochspezialisierte Behörden mit Zehntausenden von Mitarbeitern und einem Gesamtbudget von mehreren zehn Milliarden Dollar – darunter das Heimatschutzministerium, die Nationale Sicherheitsbehörde, die Cyber-Abteilung des FBI, das US-Cyber-Kommando, die Abteilung für Computerkriminalität und geistiges Eigentum des Justizministeriums und das Büro des Direktors der Nationalen Nachrichtendienste, das die Aktivitäten der gesamten Geheimdienstgemeinschaft koordiniert.

Europa mit einer Augenbinde

In der Zwischenzeit scheint die EU in dieser neuen globalen Realität von immer größeren Hindernissen überwältigt zu werden, die sich aus ihrem akkumulierten technologischen Rückstand, ihrem industriellen Niedergang und der Schwäche ihrer verfügbaren Qualifikationen ergeben (was durch den Brexit durch den Weggang des britischen Humankapitals noch verstärkt wurde). Aber die höchste Mauer, die jetzt unüberwindbar scheint, bleibt die ideologische Grundlage, auf der ihre Gesetze und Politiken beruhen – die aus einer anderen Ära stammen, um nicht zu sagen einer anderen Ebene der Realität.

Das EU-Wettbewerbsrecht fördert das ordnungsgemäße Funktionieren des Binnenmarktes und konzentriert sich dabei auf die Vorteile für die Verbraucher, während Aspekte im Zusammenhang mit der Produktion, der Wettbewerbsfähigkeit zwischen verschiedenen Weltregionen und nationalen Interessen vernachlässigt werden. Dieser eingeschränkte Ansatz hat bisher das Entstehen neuer digitaler Giganten in Europa verhindert und dazu beigetragen, dass der Einfluss früherer europäischer Marktführer in diesem Bereich geschwunden oder sogar verschwunden ist.

Im Gegensatz zu anderen großen Wirtschaftsmächten, die den digitalen Sektor als strategische Priorität behandeln und Schutz- und Verstärkungsmaßnahmen ergreifen (z. B. Ultrakonzentration, massive Kapitalisierung, Vereinbarungen zwischen Unternehmen, staatliche Subventionen und geschützte Märkte), hat sich die EU in der Vergangenheit für eine andere Strategie entschieden. Sie bevorzugt einen offenen, verbraucherorientierten Markt, eine strenge Normenpolitik, das Verbot von Kartellen und Fusionen, die zu globalen Giganten führen könnten (was in einem Sektor, der von einer „Winner-take-all“-Logik beherrscht wird, unerlässlich ist), und eine Präferenz gegen staatliche Beihilfen.

In einer digitalisierten Welt, in der viele globale Tech-Giganten nicht mehr als Soft-Power-Emissäre ihrer Heimatländer fungieren, sondern als Geheimdienstagenten (oder regelrechte Freibeuter oder Söldner), tanzt Europa mit verbundenen Augen am Abgrund. Auch wenn es kühn erscheinen mag, ist dieses Verhalten eher eine Form von Selbstmord als von Mut, und das in einem geopolitischen Kontext, der ebenso unsicher wie explosiv ist.

Szenarien

Von den jüngsten Cyberangriffen, die Frankreich am 10. und 11. März heimsuchten, waren mehrere Ministerien betroffen, vor allem die interministerielle Direktion, die für die Verwaltung und Sicherung des Informationsflusses innerhalb der Regierung und mit Dritten wie dem Netz der Europäischen Gemeinschaft zuständig ist. Die Angriffe haben gezeigt, dass die EU dringend den Geist ihrer Politikgestaltung reformieren und das europäische Wettbewerbsrecht an die harten Realitäten der digitalisierten Welt des 21. Jahrhunderts anpassen muss.

Die Risiken gleichzeitiger, kontinentweiter Cyberangriffe auf die Energie-, Verkehrs-, Sicherheits- und Verteidigungsinfrastruktur sind keine Science-Fiction mehr. Sie sind beängstigend realistisch. Diese Angriffe würden nicht nur eine weit verbreitete Panik auslösen, sondern könnten auch die europäische Wirtschaft vollständig zum Erliegen bringen und die Staaten wichtiger Verteidigungsfähigkeiten berauben.

Die Europäische Union muss sich dringend reformieren – sie muss die Behauptung aufgeben, dass sie nicht angegriffen wird, und ihre Politik sowie ihre wirtschaftlichen und technischen Normen entsprechend umgestalten, damit die Mitgliedstaaten wieder zu ihrer Machtpolitik und Souveränität in strategischen Bereichen zurückfinden und ihre Sicherheitsverpflichtungen wahrnehmen können.

Author: Charles Millon – French politician who served as France’s Minister of Defense from 1995 to 1997 and French Ambassador to the United Nations from 2003 to 2007

Source:

Digital geopolitics and the rise of cyberwarfare