„In 10 Jahren besteht die Gefahr, dass es in Europa kein jüdisches Leben mehr gibt“
So lautete die Warnung von Rabbi Menachem Margolin, Generaldirektor der European Jewish Association, auf dem internationalen Treffen in Krakau
„Europa hat im Kampf gegen den Antisemitismus völlig versagt. Auf zu vielen europäischen Straßen können wir nicht mehr in unseren Kleidern herumlaufen. Es gibt immer mehr Juden, die glauben, dass es in zehn Jahren kein jüdisches Leben mehr in Europa geben wird.“
Mit diesen Worten eröffnete Rabbiner Menachem Margolin, Generaldirektor der European Jewish Association, der Dachorganisation der jüdischen Gemeinden Europas, die internationale Konferenz über Antisemitismus, die am 7. November in Krakau stattfand und an der zwanzig Redner aus verschiedenen Ländern teilnahmen.
Harte Worte, die das wachsende Gefühl der Unsicherheit und Einschüchterung zum Ausdruck bringen, das unter vielen europäischen Juden verbreitet ist. Laut einer Umfrage im ersten politisch-strategischen Plan der Europäischen Kommission gegen Antisemitismus, der im Oktober 2021 veröffentlicht wurde, betrachten neunzig Prozent der Juden auf dem Alten Kontinent den Antisemitismus als eine reale und wachsende Bedrohung.
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Achtunddreißig Prozent der Juden in der EU schließen eine Auswanderung nicht aus….
Achtundzwanzig Prozent haben direkt antisemitische Angriffe oder Belästigungen erlebt, und 34 Prozent vermeiden den Besuch jüdischer Orte oder Veranstaltungen aus Sicherheitsgründen. Achtunddreißig Prozent der europäischen Juden erwägen, aus dem Land, in dem sie leben, auszuwandern, weil sie sich nicht sicher fühlen.
Das Gefühl der Angst und des Unbehagens variiert je nach geografischem Gebiet und sozialem Kontext sowie nach den unterschiedlichen persönlichen Erfahrungen der Befragten.
Die Geheimdienste und Polizeidienste der europäischen Länder sind sich jedoch fast alle einig, dass es drei Hauptquellen gibt, aus denen der Antisemitismus erwächst: die extreme Rechte (mit erheblichen Unterschieden von Land zu Land), die extreme Linke und der radikale Islamismus.
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Das No-Vax-Milieu als neue Quelle für alte Vorurteile
Neben diesen gibt es auch das neugeborene No-Vax-Milieu, das den COVID 19-Beschränkungen feindlich gegenübersteht und in dem Verschwörungstheorien gedeihen, die dazu führen, dass der Jude als Schuldiger identifiziert wird.
Dieser Trend ist besonders im deutschsprachigen Raum weit verbreitet. Nach Ansicht des Bundesamtes für Verfassungsschutz, d.h. des deutschen Inlandsgeheimdienstes, würde die No-Vax-Bewegung in der Gesellschaft eine Relativierung und Verharmlosung der von Juden während des Nationalsozialismus erlittenen Verbrechen bewirken.
Einige No-Vax-Protestler vergleichen die Sperre tatsächlich mit Konzentrationslagern und ungeimpfte Menschen mit Juden während der Hitlerzeit.
Heute wurde als Zeichen der Solidarität mit #Israel die israelische Flagge am Dach des Bundeskanzleramtes gehisst. Die terroristischen Angriffe auf Israel sind auf das Schärfste zu verurteilen! Gemeinsam stehen wir an der Seite Israels. pic.twitter.com/FR42K3iA4z
— Sebastian Kurz (@sebastiankurz) May 14, 2021
Diesem Trend ist es auch zu verdanken, dass Europa laut dem Vizepräsidenten der Europäischen Kommission, Margaritis Schinas, eine „wachsende und besorgniserregende Tendenz antisemitischer Angriffe und Stimmungen“ erlebt, die eine gemeinsame EU-Strategie zu ihrer Bekämpfung erfordert.
Die Umsetzung dieses Vorhabens ist jedoch schwierig, da es mit den unterschiedlichen Interpretationen des Phänomens durch die verschiedenen Länder kollidiert, die häufig deren unterschiedliche Sensibilitäten, Geschichte und politische Kulturen widerspiegeln. So gibt es beispielsweise keine einheitliche Methode zur Klassifizierung islamistischer antisemitischer Angriffe.
Während die Polizeibehörden einiger Länder, z. B. in Italien, die Angriffe unter Berücksichtigung der Herkunft und des religiösen Hintergrunds des Angreifers klassifizieren, wird dies in anderen Ländern nicht getan.
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In Deutschland beispielsweise haben es Polizei und Presse jahrelang vermieden, die Religion und Herkunft der Täter bei (nicht nur antisemitischen) Angriffen zu nennen, um eine Ausbeutung zu vermeiden.
Diese Tendenz ändert sich nun allmählich nach der großen öffentlichen und politischen Kontroverse, die durch einige auffällige Gewaltepisoden in den letzten Jahren ausgelöst wurde.
Aufgrund dieser unterschiedlichen Klassifizierungen und politischen Kulturen gibt es bis heute keine einheitliche europäische Datenbank, in der Daten zu antisemitischen Übergriffen nach einer einheitlichen Methode gesammelt werden. Stattdessen gibt es Datensammlungen der einzelnen Nationalstaaten, die unterschiedliche Bewertungsinstrumente anwenden.
What if Flanders fires 1050+ Rockets into Wallonia?#IsraelUnderFire pic.twitter.com/hmRMHOEbKp
— EJA (@EJAssociation) May 12, 2021
Laut Statista, dem unabhängigen deutschen Unternehmen, das sich mit Erhebungen und Statistiken befasst, indem es institutionelle Daten sammelt, wurden im Jahr 2020 in Europa (einschließlich Nicht-EU) 189 antisemitische Angriffe verzeichnet. An erster Stelle steht Deutschland mit 59 Fällen, gefolgt vom Vereinigten Königreich (46), der Ukraine (22) und Frankreich (12). Italien verzeichnete acht Fälle.
Es gibt jedoch eine neue wichtige Information. Es handelt sich um die Zunahme antisemitischer Aggressionen und Verhaltensweisen in Westeuropa, wo der Antisemitismus in den letzten Jahrzehnten als eher gering eingestuft wurde.
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Griechenland, Polen und Ungarn haben „sehr hohe Misstrauensraten“
Eine im Oktober von IPSOS und der ungarischen Europe Action and Protection League veröffentlichte Umfrage zeigt, dass Polen, Ungarn und Griechenland die europäischen Länder mit dem größten gesellschaftlichen Misstrauen gegenüber Juden sind. Allerdings sind antisemitische Gewalttaten in diesen Ländern selten.
Im Westen hingegen wächst die Besorgnis, zum Beispiel in Frankreich. „Die Juden verlassen Europa“, sagt Joel Mergui, Präsident einer der größten jüdischen Organisationen Frankreichs.
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In Frankreich gebe es Gegenden, die für Juden „No-Go-Zonen“ seien und in die sich selbst die Polizei nur schwer hineintraue. Er verweist auf einige dicht von Muslimen bewohnte Stadtviertel in Großstädten, die in den letzten Jahren von mehreren jüdischen Familien aus Sicherheitsgründen verlassen wurden.
„Während die europäische Politik und die europäischen Institutionen erhebliche Mittel aufwenden und keine Mühe scheuen, um den Antisemitismus zu bekämpfen, verbessert sich die Situation in Europa nicht. Im Gegenteil, sie wird immer schlimmer.
Darin scheinen sich alle einig zu sein. Über die Art und Weise, wie man mit dem Problem umgehen soll, gibt es jedoch sehr unterschiedliche Meinungen.
(dieser ausführliche Artikel ist Teil eines Sonderberichts des Journalisten Luca Steinmann für die italienische Zeitung „La Verità“)
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