1. August-Feier 2022: Rede des Bundespräsidenten Ignazio Cassis auf dem Bauernhof Stöckweid in Knonau (ZH)
Bundespräsident Ignazio Cassis (FDP) machte die erste Etappe seiner “Tour de Suisse” mit dem Zug in Knonau ZH auf dem Bauernhof Stöckweid und sprach darüber, dass in der heutigen Welt nichts mehr selbstverständlich ist.
Herr Direktor des Schweizerischen Bauernverbandes
Herr Präsident des Zürcher Bauernverbandes
Vertreterin und Vertreter des Bauernverbandes
Liebe Gastgeber
Werte Gäste
Liebe Anwesende
Vielen Dank für Ihren Empfang. Ich freue mich sehr, heute bei Ihnen auf dem Bauernhof Stöckweid zu sein.
Es ist die erste Etappe meiner 1.-August-Tour. Gestartet habe ich meine Reise heute Morgen mit einer Zugfahrt aus Lugano. Beenden werde ich meine Tour de Suisse heute Abend in Lausanne. Als Bundespräsident wollte ich dieses Jahr eine Reise quer durch die Schweizer Geschichte machen. Ich wollte symbolische Orte besuchen, die früher Zeugen von Krisen – aber vor allem auch – von Versöhnungen waren. Damit möchte ich zwei wichtigen Pfeiler unseres Landes hervorheben: unsere Fähigkeit zum Ausgleich und unsere Zusammengehörigkeit. Diese Werte sollen uns auch heute inspirieren.
Kontext
Zu Beginn meines Präsidialjahrs hofften wir auf ein baldiges Ende der Pandemie. Nach zwei Jahren Einschränkungen sehnten wir uns nach Normalität. Und tatsächlich: Im Februar sahen wir endlich Licht am Horizont. Das Virus ist zwar nicht verschwunden, aber wir haben gelernt, damit zu leben.
Unvorstellbar war hingegen, dass dieses Jahr der Krieg nach Europa zurückkehren würde. Ein schrecklicher Krieg. Ein Krieg, der unfassbar viel Leid und Zerstörung verursachen würde. Wer hätte sich vorstellen können, dass in Europa Millionen von Frauen und Kindern auf der Flucht sein werden? Wer hätte sich vorstellen können, dass Themen wie die Sicherheitspolitik in Europa, die Armee oder die Neutralität wieder die öffentliche Debatte dominieren würden? Und wer hätte gedacht, dass wir uns im Hochsommer vor Energieengpässen im Winter fürchten? Bereits die Covid-Krise hatte schwerwiegende Konsequenzen: eine instabile Wirtschaftslage, unterbrochene Lieferketten, Verschuldung infolge staatlicher Interventionen und darauf basierend eine Inflation, die die Kaufkraft vieler Familien zu senken droht. All diese Herausforderungen hat der Krieg weiter verschärft.
Die Welt, in der wir vor zweieinhalb Jahren gelebt haben, war wahrlich eine andere. Seit dem Ausbruch der Pandemie leben wir in einem anhaltenden Krisenmodus. Von einer Zeitwende zu sprechen, ist sicherlich nicht übertrieben. Die Realität hat unsere Vorstellungskraft übertroffen. Umso mehr freut es mich, dass wir heute den 1. August zusammen feiern können. Gerade auch, weil solche Krisen das Heimatgefühl stärken. Es ist schön, in einem Land zu leben, wo Freiheit, Sicherheit, Frieden und Demokratie unser gemeinsames Verständnis von Heimat prägen. In einem Land, wo Vielfalt Reichtum heisst und nicht als Bedrohung verstanden wird. Auch wenn uns die Geschichte lehrt, dass diese Reise nicht immer eine einfache war. Aber genau diese Schweiz – eine Schweiz, die diese Reise erfolgreich gemeistert hat – möchte ich mit Ihnen feiern.
Konflikt und Versöhnung
Meine Damen und Herren
Die Reise, die ich heute früh in Lugano angetreten habe, soll uns daran erinnern, woher wir kommen und wo wir heute stehen. Wir dürfen nicht vergessen, dass auch die Schweiz im Laufe ihrer Geschichte viele Krisen und Konflikte erlebt hat. Die Schweiz ist als Reaktion auf ihre mächtigen, expansionistischen Nachbarn entstanden.
Unsere Vorfahren haben gekämpft, um sich zu bewahren. Sie bildeten Allianzen, um stärker zu sein und ihre Unabhängigkeit zu verteidigen. Sie haben oft gewonnen, zuweilen aber auch die falsche Seite gewählt. Sie mussten und konnten verhandeln, um ihr Fortkommen und ihr Territorium zu sichern. Schon damals profitierte Europa von einer stabilen und sicheren Schweiz als Garantin der Verkehrs- und Handelswege, die das Rückgrat des Kontinents bilden. Ja, die geografische Lage ist ein wichtiger Schutzfaktor, aber sie ist nicht alles: Die Schweiz hat aus eigener Kraft die Fähigkeit zur Selbstbehauptung und Stärke entwickelt, auf die sie noch heute zählen kann. Wir haben immer wieder einen Weg zur Versöhnung gefunden. Zwei Beispiele aus der Geschichte, die sich nicht unweit von hier zugetragen habe, machen das deutlich.Ich habe nicht zufällig entschieden, in Knonau Halt zu machen.
Wir sind hier in der Gegend, die Schauplatz der beiden Kappelerkriege (1529/1531) und später des Sonderbundkriegs (1847) war. Zwei Wendepunkte in der Geschichte der Schweiz, die unser Land erschüttert haben. Wendepunkte aber auch, die die zerstrittenen Orte dazu bewogen haben, den Kulturkampf zu überwinden und gemeinsam die moderne Schweiz zu gründen. Das war keine Selbstverständlichkeit, wenn man sich die Kultur- und Mentalitätsunterschiede vor Augen führt. Denken wir nur daran, dass die Tagsatzung 1847 – nicht ohne Diskussionen – beschloss, ausgerechnet einen Genfer zu entsenden, um diesen Konflikt zu lösen. Der Name dieses Genfers? Henri Dufour.
Um Konflikt und Versöhnung geht es auch bei meiner nächsten Station – der Industrie- und Uhrenstadt Grenchen im Kanton Solothurn. Dort erinnern wir uns an die Arbeiterkämpfe und den Landesstreik von 1918 – eine der grössten politischen und sozialen Krisen unseres Bundesstaates. In Grenchen endete der Streik für drei Arbeiter tödlich. Sie wurden von Soldaten erschossen. Als Folge dieser Zeit sozialer Spannungen wurde 1937 der Arbeitsfrieden geschlossen, der in der Schweiz eine identitätsstiftende Bedeutung erlangt hat – wie auch die Neutralität.
Diese Momente der Schweizer Geschichte erinnern uns daran, dass Frieden und Stabilität einen Preis haben. Sie können niemals als gesichert gelten. Sie zu bewahren, erfordert Einsatz und Dialog. Es ist mir wichtig, dass wir uns alle in diesen unsicheren Zeiten daran erinnern – insbesondere die jungen Menschen, die hier anwesend sind und von denen mich einige bereits seit Lugano begleiten. Ich bin überzeugt, dass die Welt heute mehr «Swissness» braucht. Ich engagiere mich auch als Aussenminister dafür und vertraue darauf, dass Sie diese Werte mit viel Elan unterstützen – heute und in Zukunft.
Weil ich zutiefst an die verbindende Kraft der Schweiz glaube, habe ich auch beschlossen, die Konferenz zum Wiederaufbau der Ukraine in unserem Land durchzuführen. An der Seite von 40 Ländern und 20 internationalen Delegationen haben wir uns Anfang Juli im Tessin für den Friedensprozess starkgemacht, und diesen mit der Unterzeichnung der Erklärung von Lugano konkretisiert. Zugegeben, wir stehen erst am Anfang eines komplizierten Prozesses. Wir haben noch einen langen Weg vor uns, ehe die Waffen schweigen und wieder Stabilität nach Europa zurückkehrt. Aber die Schweiz ist zur Stelle: Stark und entschlossen tragen wir diesen Elan mit und sind bereit, unsere Werte und unser diplomatisches Know-how auf der internationalen Bühne einzubringen.
Schweiz bereitet sich den Geburtstag zu feiern
Werte und Vielfalt
Liebe Anwesende
Wie kann man die Schweiz im aktuellen Kontext feiern? Wie können wir in diesen Zeiten unseren Werten und der Vielfalt unseres Landes gerecht werden?
Will man die Schweiz verstehen, muss man auf sie zugehen. Für mich als Tessiner und für viele meiner Tessiner Landsleute drängte sich dieser Schritt schon früh auf. Nicht zuletzt wegen der – durchaus wunderschönen – Gebirgsbarriere, die uns vom Rest des Landes trennt. Diese Barriere macht das Tessin zu einer einzigartigen Region in der Schweiz, sondert sie aber auch etwas ab. Und sie verlangt von uns zeitliche, sprachliche und kulturelle Anstrengung, um auf andere – auf Sie – zuzugehen.
Ich möchte heute aber nicht in erster Linie von der Anstrengung sprechen, sondern von der Verantwortung. Ich verspüre ein tiefes Bedürfnis nach Einigkeit. Eine Zusammengehörigkeit, die gerade in der heutigen Zeit wichtig ist. Deshalb bedeutet mir meine 1. August Reise durch die Schweiz sehr viel.
Die Covid-Pandemie und der Krieg in der Ukraine haben auf unterschiedliche Art und Weise gezeigt, dass die Solidarität in einer Krise zunimmt. Die Abstandsregeln haben uns paradoxerweise näher zusammengebracht, indem sie uns dazu gezwungen haben, mehr aufeinander zu achten. Und in gleicher Weise hat der Krieg in Europa eine grosse Welle der Hilfsbereitschaft ausgelöst. «Selbst wenn sie uneins ist, hält die Schweiz zusammen.» Ein seltsamer Satz, werden Sie denken. Und doch zieht sich dieser Wille zur Versöhnung durch die ganze Entstehungsgeschichte der Schweiz.
Zusammenhalten: Das ist das, was wir hier in unserem Land im Herzen Europas, dem Begegnungsraum von vier Sprachen und Kulturen, gelernt haben. Und das möchte ich in diesem Jahr als Bundespräsident feiern: unsere Fähigkeit, miteinander zusammenzuleben und aufeinander zuzugehen. Und ich denke hier nicht nur an die Ferienzeit, in der viele von Ihnen unter den Alpen hindurch rauschen, um an der Tessiner Sonne wieder aufzutauchen. Ich denke an die Vielfalt, der wir in unseren Strassen, an unseren Universitäten, Schulen, Arbeitsplätzen und Wohnorten begegnen. Die Vielfalt, die wir zu Stosszeiten in den Bahnhöfen antreffen. Bahnhöfe, die in meinem Leben und meiner politischen Laufbahn eine zentrale Rolle spielen. Gerade die Bahnhöfe – diese Ankunfts- und Abfahrtsorte – waren während der Pandemie ein starkes Symbol dafür, wie Covid unsere Gesellschaft zum Stillstand gebracht hat. Bahnhöfe sind Treffpunkte. Sie sind Knotenpunkte im Schienennetz, das uns miteinander verbindet.
Und dieses Jahr feiern wir zudem den 175. Geburtstag der Schweizer Bahnen. Die Eisenbahn ist die Visitenkarte einer modernen und effizienten Schweiz, die so stark vernetzt ist wie kaum ein anderes Land. Stellen Sie sich vor: Innerhalb weniger Stunden können Sie von einem entlegenen Walliser Seitental nach Mailand gelangen, und das praktisch ohne Wartezeit. Die Verbindungen funktionieren – auch wenn sie manchmal Opfer ihres Erfolgs werden. Diese extrem gute Erschliessung trotz des schwierigen Reliefs ist das Ergebnis einer Reihe von technischen und menschlichen Meisterleistungen im Laufe unserer Geschichte – von denen auch ich am heutigen Tag gerne profitiere.
Die Schweizerischen Bundesbahnen feiern 175 Jahre
Kultur und Modernität
Liebe Anwesende
Die letzte Etappe meiner Bahnreise führt mich in die Westschweiz nach Lausanne, der Endstation meiner 1.-August-Tour. Lausanne, die «capitale olympique» der Waadt, die über zwei Jahrhunderte unter Berner Herrschaft stand. Heute ist Lausanne ein Ort der Begegnung zwischen Stadt und Land, zwischen Tradition und Moderne.
Eine Gelegenheit, an die Worte eines berühmten Waadtländers zu erinnern – nicht jene meines Kollegen Guy Parmelin, sondern jene von Jean-Pascal Delamuraz: «Les Suisses s’entendent bien car ils ne se comprennent pas.» Die Schweizer verstehen sich gut, weil sie sich nicht verstehen. Das stimmt ein bisschen, aber es ist nicht nur das. Ich denke, wir verstehen uns vor allem deshalb, weil wir alle stolz auf unsere Vielfalt und unsere Besonderheiten sind. Das Geheimnis unseres Zusammenlebens liegt in unserem gemeinsamen Stolz auf unsere Einzigartigkeit.
Den Beweis liefert meine abschliessende Frage: In welchem anderen Land könnte ein Präsident einen Zug nehmen, an einem Tag drei Sprachregionen besuchen und gemeinsam mit der Bevölkerung den Geburtstag seines Landes feiern? Das ist Teil unserer Kultur. Das ist unsere DNA. Wir haben dieses Selbstverständnis über Generationen hinweg verinnerlicht. So sehr, dass uns das manchmal als selbstverständlich erscheint. Aber wir sollten nie vergessen, woher wir kommen. Wir sollten nie vergessen, was für eine grosse Chance unsere Einzigartigkeit ist.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit, und wünsche Ihnen einen schönen Nationalfeiertag. Es lebe die Schweiz!
Quelle: Admin.ch